Stellungnahme von Univ. Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider zum Reformvertrag - Vertrag von Lissabon vom Oktober 2007:

Kurzfassung der„Expertise zur Gesamtänderung der Bundesverfassung Österreichs durch den Reformvertrag der Europäischen Union und die Notwendigkeit einer Abstimmung des Bundesvolkes über diesen Vertrag “ von Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider vom Oktober 2007.

Der Vertrag zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (in Zukunft Vertrag über die Arbeitsweise der Union; VAU), der sogenannte Reformvertrag, der im Entwurf von der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten am 5. Oktober 2007 öffentlich gemacht worden ist, soll am 15. Oktober in Luxemburg von den Außenministern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beraten werden und auf der Regierungskonferenz der Staats- und Regierungschefs am 18. Oktober 2007 in Lisabon endgültig angenommen werden. Dieser Vertrag wird die Verfassung der Europäischen Union nicht nur, wie seine Technik es erscheinen läßt, weiterentwickeln, sondern grundlegend ändern. In der Substanz unterscheidet sich dieser Vertrag nicht von dem in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland gescheiterten Vertrag über eine Verfassung für Europa vom 29. Oktober 2004. Insbesondere geht dieser Vertrag (endgültig) den Schritt zum Bundesstaat Europäische Union.

In Österreich stellt sich die Frage, ob die Annahme dieses Vertrages der Abstimmung des gesamten Bundesvolkes nach Art. 44 Abs. 3 des Bundesverfassungsgesetzes (B-VG) bedarf. Das setzt voraus, daß der Vertrag eine Gesamtänderung der Bundesverfassung bewirkt. Eine solche Gesamtänderung ist die Änderung der strukturellen Prinzipien des Bundesverfassungsgesetzes des Verfassungskerns, insbesondere des demokratischen Prinzips. Art. 44 Abs. 3 B-VG ist nach der Praxis Österreichs auf politische Staatsverträge anwendbar. Österreich hat den Beitritt zur Europäischen Union aufgrund eines besonderen Bundesverfassungsgesetzes durchgeführt, das der Zustimmung des Bundesvolkes bedurfte und diese Zustimmung gefunden hat.

Allenfalls aufgrund einer Verfassungsgesetzgebung im Verfahren des Art. 44 Abs. 3 B-VG kann die Bundesverfassung Österreichs überhaupt durch politische Staatsverträge im Sinne des Art. 50 B-VG geändert werden. Folglich muß bei Gesamtänderungen der Bundesverfassung das gesamte Bundesvolk abstimmen und mehrheitlich zustimmen. […]

Bedenkenswert ist, ob durch politische Staatsverträge eine Gesamtänderung der Bundesverfassung überhaupt zulässig ist. Wenig einsichtig ist die Auffassung, daß politische Staatsverträge eine Gesamtänderung der Bundesverfassung bewirken dürfen, ohne daß darüber das gesamte Bundesvolk abstimmt. Das würde den Staatsorganen eine Macht über das Volk geben, die Art. 44 Abs. 3 B-VG gerade ausschließen will und das ausgerechnet durch vertragliche Bindung an andere Völker. Das wäre nicht nur demokratie-, sondern staatswidrig.

Durch die Zustimmung der Österreicher zum Beitritt Österreichs zur Europäischen Union in der Gestalt der Verträge, welche diese durch den Maastricht-Vertrag, der am 1. November 1993 in Kraft getreten war, gefunden hatten, hat Österreich nicht jedweder Entwicklung der Verträge der Europäischen Union zugestimmt. Das wäre wiederum eine Entmachtung des österreichischen Bundesvolkes, von dem nach Art. 1 S. 2 B-VG das Recht Österreichs aus geht. Es wäre zudem eine Umgehung des Art. 44 Abs. 3 B-VG. Vielmehr unterliegt jede Änderung der Bundesverfassung den Voraussetzungen des Art. 44 Abs. 3, auch und gerade Verfassungsänderungen durch politische Staatsverträge, wie die Verträge der Europäischen Union.

Die Vertrags- und damit Verfassungslage der Europäischen Union hat sich seit dem Beitritt Österreichs 1994 wesentlich verändert. Zum einen sind die Verträge von Amsterdam 1997 und von Nizza 2001 geschlossen worden, welche die Vertrags- und Verfassungslage substantiell weiterentwickelt haben. Insbesondere sind aber vierzehn weitere Mitgliedstaaten der Europäischen Union beigetreten, nämlich 2004 Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei, Ungarn, Malta und Zypern, 2007 Rumänien und Bulgarien. Diese Mitgliedstaaten erweitern die Union wesentlich. Die Wirtschaftslage der Europäischen Union hat sich dadurch völlig verändert, weil die Beitrittsländer weitestgehend deutlich schwächer entwickelte Volkswirtschaften sind als die Mitgliedstaaten der Union im Zeitpunkt des Beitritts Österreichs. Vor allem haben sich durch die erweiterte Mitgliedschaft die politischen Verhältnisse in der Union grundlegend verändert. Politisch ist der Einfluß Österreichs auf seine Geschicke, die weitestgehend von der Union bestimmt werden, durch die neuen Mitgliedschaften wesentlich reduziert. Jeder neue Mitgliedstaat verändert die Verfassungslage Österreichs (wie auch aller anderen Mitgliedstaaten) und ist richtigerweise ein Fall des Art. 44 Abs. 3 B-VG, der die Abstimmung des gesamten Bundesvolkes gebietet. Dem Bundesvolk wurde aber die Abstimmung nicht ermöglicht. Allemal ist nach der großen Erweiterung der Union die Abstimmung des gesamten Bundesvolkes über den Reformvertrag geboten, der die neue Europäische Union verfassungsrechtlich nicht nur konsolidiert, sondern substantiell verändert.

Die im Folgenden dargelegten sechs Änderungen der Verfassung der Europäischen Union, d.h. des Vertragswerkes der Union, ergeben aber auch alle zusammen und jede für sich alleine die Pflicht Österreichs aus seiner Bundesverfassung, den Reformvertrag einer Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen, weil sie alle zusammen und jede einzelne eine Gesamtänderung der Bundesverfassung sind.

Ad 1. Vereinfachtes Änderungsverfahren

Die Einrichtung des „vereinfachten Änderungsverfahrens“ durch Art. 33 Abs. 6 EUV ist eine „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ im Sinne des Art. 44 Abs. 3 B-VG, die „eine Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen“ ist. Nach Art. 33 Abs. 6 EUV kann der Europäische Rat durch Beschluß nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission sowie, bei institutionellen Änderungen im Währungsbereich der Europäischen Zentralbank, auf Initiative der Regierung jedes Mitgliedstaates, des Europäischen Parlaments und der Kommission einstimmig „die Änderung aller oder eines Teils der Bestimmungen des Dritten Teiles des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ beschließen. Dieser Dritte Teil umfaßt alle wichtigen Politiken der Union außer der Außen- und Sicherheitspolitik, nämlich den freien Warenverkehr (mit der Zollunion), die Landwirtschaft, die Freizügigkeit, den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr (also den Binnenmarkt und die Grundfreiheiten), den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den Verkehr, die gemeinsamen Regeln betreffend Wettbewerb, Steuerfragen und Angleichung der Rechtsvorschriften, die Wirtschafts- und Währungspolitik, die Beschäftigung, die Gemeinsame Handelspolitik, die Zusammenarbeit im Zollwesen, die Sozialpolitik, die allgemeine und berufliche Bildung und Jugend, die Kultur, das Gesundheitswesen, den Verbraucherschutz, die transeuropäischen Netze, die Industrie, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Forschung und technologische Entwicklung, die Umwelt, die Entwicklungszusammenarbeit, die wirtschaftliche und finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern. Der Beschluß tritt zwar nach Unterabs. 2 S. 3 des Art. 33 Abs. 6 EUV „erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft“, aber der Beschluß ist kein „politischer Staatsvertrag“ im Sinne des Art. 50 B-VG, welcher der Zustimmung des Nationalrates und gegebenenfalls des Bundesrates und der Ratifikation durch den Bundespräsidenten (Art. 65 Abs. 1 B-VG) bedarf. Die Gesetzgebungsorgane Österreichs müssen somit an dem Verfahren nicht beteiligt werden. […]

Ad 2. Generalermächtigung zur Mittelbeschaffung

Der Reformvertrag hat trotz des Maastricht-Urteils, das der großen Generalklausel, der Kompetenz-Kompetenz des Art. F Abs. 3 EUV (Art. 6 Abs. 4 EUV bisherige Fassung) die rechtliche Verbindlichkeit (zur Rettung des Maastricht-Vertrages) abgesprochen hat (BVerfGE 89, 155 (196 f.)), in Art. 269 Abs. 1 VAU eine fast gleichlautende Bestimmung beibehalten, diese allerdings in den Titel II des Fünften Teils, der die Finanzen der Union regelt, gestellt, also auf Mittel zur Finanzierung des Haushaltes der Union begrenzt. Jetzt aber wird ein Verfahren für die Umsetzung dieser Generalermächtigung eingeführt, das an der rechtlichen Verbindlichkeit der Ermächtigung nicht mehr zu zweifeln erlaubt. Nach Absatz 3 Unterabsatz 1 nämlich erläßt der Rat einen Beschluß, den er einstimmig nach einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments faßt, mit dem die Bestimmungen über das System der Eigenmittel der Union festgelegt werden. Dieser Beschluß kann neue Kategorien von Eigenmitteln einführen, aber auch bestehende Kategorien abschaffen. Die neuen Kategorien von Eigenmitteln können und werden auch europäische Steuern sein. […]

Ad 3. Flexibilitätsklausel

Die Flexibilitätsklausel des Art. 308 Abs. 1 VAU ermöglicht es der Union, zur Verwirklichung der überaus weit gesteckten Ziele der Verträge durch Vorschriften des Rates auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments „im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche“ tätig zu werden, auch wenn die Verträge die dafür erforderlichen Befugnisse nicht vorsehen. Auf dieser Grundlage kann sich die Union so gut wie jede Befugnis verschaffen, ohne daß die Mitgliedstaaten dem zustimmen müssen. Letztere können lediglich ihre (kläglichen) Einwendungen aus dem Subsidiaritätsprinzip zur Geltung bringen (Absatz 2). Diese Kompetenz-Kompetenz geht deutlich über die bisherige Generalklausel des Art. 308 EGV hinaus, welche auf die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes beschränkt war. Lediglich Harmonisierungsverbote dürfen durch die Vorschriften nicht überspielt werden (Absatz 3) und die Verwirklichung von Zielen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik darf nicht auf diesen Artikel gestützt werden (Absatz 4). […]

Ad 4. Bundesstaatliche Zuständigkeit

Obwohl der Reformvertrag nicht mehr wie der gescheiterte Vertrag über eine Verfassung für Europa von „Verfassung“ spricht, um nicht deutlich werden zu lassen, daß mit dem Integrationsschritt des Reformvertrages ein Staat verfaßt wird, macht der Reformvertrag doch den Schritt vom Staatenverbund zum Bundesstaat, zum europäischen Unionsstaat. Das erweist (abgesehen von den staatsmäßigen weiten Aufgaben und Befugnissen der Union) die neue Zuständigkeitsordnung der Artikel 2 bis 6 des Vertrages über die Arbeitsweise der Union (VAU). […]

Ad 5. Vorrang der Unionsrechts

Zum Reformvertrag gehören die Erklärungen der Regierungskonferenz, die Bestandteil des Reformvertrages werden und die Verbindlichkeit dieses Vertrages entfalten. Diese Erklärungen sind (je nach ihrem Inhalt) authentische Klärungen der Rechtslage der Europäischen Union. Die 27. Erklärung befaßt sich mit dem Vorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten. Sie lautet:

„Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.

Darüber hinaus hat die Konferenz beschlossen, dass das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates zum Vorrang in der Fassung des Dokuments 11197/07 (JUR 260) dieser Schlussakte beigefügt wird:

„Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 22. Juni 2007

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts. Dem Gerichtshof zufolge ergibt sich dieser Grundsatz aus der Besonderheit der Europäischen Gemeinschaft. Zum Zeitpunkt des ersten Urteils im Rahmen dieser ständigen Rechtsprechung (Rechtssache 6/64, Costa gegen ENEL, 15. Juli 1964 1 ) war dieser Vorrang im Vertrag nicht erwähnt. Dies ist auch heute noch der Fall. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs.““ […]

Ad 6. Verlust der „immerwährenden Neutralität“

Die immerwährende Neutralität Österreichs, ausweislich des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 26. Oktober 1955 ein Baugesetz der österreichischen Verfassung, der auch in Art. 9 a B-VG die umfassende Landesverteidigung Österreichs bestimmt, die nämlich „insbesondere zu Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität“ dienen soll, stellt die Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union seit dem Beitritt in Frage. Die reiche Diskussion dieses Problems hat bisher nicht zu dessen Lösung geführt.

Ein derart weitreichender und tiefgehender Staatenverbund, wie der der Europäischen Union und (bislang) der Europäischen Gemeinschaft läßt es nicht zu, die Neutralitätsfrage auf sogenannte Kernelemente zu reduzieren, nämlich auf die Teilnahme an Kriegen, Bündnis- und Stützpunktlosigkeit zu reduzieren. Das widerspricht bereits dem ersten Absatz des Artikel 1 des Neutralitätsgesetzes, wonach Österreich die immerwährende Neutralität „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen“ wird. Die in Absatz 2 dieses Artikel genannten, wenn man so will, Kernelemente der Neutralität, sind lediglich besonders schwerwiegende Neutralitätsverstöße. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, die schon durch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) auf Kriege ausgerichtet ist, ist sicher keine Maßnahme, welche die Neutralität aufrecht zu erhalten und zu verteidigen geeignet ist, schon gar nicht, seit der Vertrag von Amsterdam die sogenannten Petersberg-Aufgaben in Art. 17 Abs. 2 verankert hat, nämlich „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen“. Kampfeinsätze bei Krisenbewältigung können nicht anders als Frieden schaffende Maßnahmen Militärmaßnahmen sein, die nicht der Verteidigung dienen und jedenfalls völkerrechtswidrig sind, wenn sie nicht durch die Vereinten Nationen gemäß deren Charta legalisiert sind. Der Einschränkung des Neutralitätsprinzips auf eine militärische Kernneutralität widerspricht Art. 9 a Abs. 2 B-VG selbst; denn dort heißt es: „Zur umfassenden Landesverteidigung gehören die militärische, die geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung“. Richtig sieht die Bundesverfassung die Notwendigkeit, alle Kräfte für die Verteidigung des Landes einzusetzen. Demgemäß sind die geistigen, die zivilen und vor allem die wirtschaftlichen Möglichkeiten eines Landes Teil des Neutralitätsprinzips. Vor allem wirtschaftlich ist Österreich gänzlich in die Europäische Union integriert.

Der Reformvertrag entwickelt die Sicherheits- und Verteidigungsunion deutlich weiter. Zum einen schafft der Reformvertrag, wie zu IV dargelegt, einen Bundesstaat. Dieser Bundesstaat beendet die immerwährende Neutralität Österreichs und ist damit eine Gesamtverfassungsänderung im Sinne des Art. 44 Abs. 3 B-VG. […]

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