EISZEIT
Staatsstreich des Kapitals oder Renaisance der Linken

ISBN-10: 3-570-50070-5 E I S Z E I T
Staatsstreich des Kapitals oder Renaissance der Linken Ulrich MaurerISBN-10: 3-570-50070-5"Eiszeit" ist Ulrich Maurers Abrechnung mit der politischen Grundströmung der vergangenen Jahrzehnte bis hin zu aktuellen Situation. Durch die Politik de etablierten Parteien wird der soziale Zusammenhalt in zunehmendem Maße reinen Kaptialinteressen untergeordnet. Maurer warnt vor dem Verlust des staatstragenden Mittelstandes und dem Zorn de Chancenlosen. Vor allem aber diagnostiziert er eine ideologische Aushöhlung unserer westlichen Gesellschaft. Wenn außer Ökonomismus und Konsum nicht übrig bleibt, degeneriert der mündige Bürger zum Verbraucher. Und wenn einem Staat gemeinsame sinnstiftende Überzeugungen abhanden kommen, erodieren nicht nur seine Sozialsysteme, sondern die Motivation jedes Einzelnen, sich für die Gemeinschaft einzusetzen.


Ulrich Maurer formuliert klare Forderungen für eine politisch-wirtschaftliche Wende. Dazu gehören u.a. die Reform der sozialen Sicherungsysteme, die Einführung gleicher Standards für Unternehmens-, Vermögens- und Einkommensteuern in der EU und die massive Stärkung der Regionen über kommunale Selbstverwaltung.
Ulrich Maurer ist einer der ganz wenigen namhaften Politiker, die sich jenseits tagespolitischen Engagements in den letzten zwei Jahrzenten den Blick für die größeren Zusammenhänge bewahrt haben.

Ulrich Maurer, geboren 1948 in Stuttgart, studierte Jura in Tübingen und arbeitet bis heute als selbständiger Rechtsanwalt. Er ist seit 1980 Mitglied des Landtages von Baden-Württemberg und war von 1992 bis 2001 Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion. Von 1990 bis 2003 war er als innenpolitischer Sprecher Mitglied des SPD-Bundesvorstandes und zusätzlich von 1995 bis 1999 Mitglied des SPD-Präsidiums.
Nach seinem offenen Brief gegen die neoliberalen Positionen von Gerhard Schröder trat er im Mai 2005 aus des SPD aus und kurz darauf der Linkspartei bei. Ulrich Maurer wurde als Spitzenkandidat der WASG Baden-Württemberg im September 2005 in den Bundestag gewählt und ist Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion der LINKEN. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.«Gerechtigkeit ist immer Gerechtigkeit für den Schwächeren» Für ein menschenwürdiges Leben aller Menschen, jenseits aller Parteigrenzen – Ulrich Maurers neues Buch «Eiszeit – Staatsstreich des Kapitals oder Renaissance der Linken» von Tobias Salander, Historiker, Schweiz In einer Zeit schrankenloser Globalisierung, eines permanenten «Krieges gegen den Terrorismus», hemmungsloser Ausplünderung der Ressourcen, des Klimawandels, der ungeahnten Öffnung der sozialen Schere, des Hungertodes von Millionen von Menschen, der Einschränkung durch Jahrhunderte hindurch erkämpfter Bürgerrechte, der Aufweichung und flagranten Verletzung des Folterverbotes durch die stärkste Demokratie des Planeten, der Privatisierung lebenswichtiger Bereiche wie Wasser, Daseinsvorsorge, öffentliche Infrastruktur, aber auch der Sicherheit wie Armee, in einer Zeit der zunehmenden Desintegration auch der abendländischen Demokratien, der Manipulation durch gerissene und abgefeimte PR-Strategen und ihrer Geldgeber im Hintergrund – in dieser Zeit ist vielerorten ein Sich-Besinnen festzustellen, ein Innehalten und ein Sich-Konzentrieren auf das Wesentliche dessen, was menschenwürdiges Leben denn ausmachen würde.
Wer sozialer Demokrat sein will, muss raus aus der SPD Jüngst sind dazu wegweisende Bücher ganz unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Provenienz erschienen: Bereits besprochen wurde in dieser Zeitung Norbert Blüms Buch «Gerechtigkeit – eine Kritik des Homo oeco­nomicus», in einer der nächsten Nummern dann Heinrich Wohlmeyers «Globales Schafe scheren – gegen die Politik des Niederganges».
Ein weiterer Ansatz, der zu fast identischen Schlussfolgerungen kommt, wenn auch von einem ganz anderen Hintergrund her, stammt aus der Feder des Parlamentarischen Geschäftsführers der Fraktion der Linken im Bundestag, dem 1948 in Stuttgart geborenen Rechtsanwalt Ulrich Maurer. Maurer war von 1990 bis 2003 als innenpolitischer Sprecher Mitglied des SPD-Bundesvorstandes und von 1995 bis 1999 Mitglied des SPD-Präsidiums. Nach einem offenen Brief gegen die neoliberalen Positionen von Gerhard Schröder trat Maurer 2005 aus der SPD aus und wurde 2005 als Spitzenkandidat der Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit (WASG) Baden-Württemberg in den Bundestag gewählt – in der festen Überzeugung, wer heute sozialer Demokrat bleiben wolle, müsse die SPD verlassen.
Wer als Linkskatholik der katholischen Soziallehre verbunden ist oder als säkular Denkender der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Ehrhards, der wird das Buch von Ulrich Maurer mit genauso grossem Gewinn lesen wie ein Linker, der die Welt aber mit personalem Menschenbild betrachtet.
Würdigung des Schweizer Modells der direkten Demokratie Um die Quintessenz vorwegzunehmen: Der deutsche Sozialist Maurer schlägt als Friedensmodell das Schweizer Modell der direkten Demokratie vor. So schreibt Maurer: «Eine humane Gesellschaft braucht nichts so sehr wie die Wiederherstellung von Gemeinschaft. Auf der politischen Ebene eröffnen sich dafür drei Chancen: 1. Die Ausweitung von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie durch Volksbegehren und Volkentscheide auf allen politischen Ebenen, 2. eine Renaissance des Genossenschaftsgedankens und 3. der Ausbau und die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung.» (Maurer, S. 200) Es ist, als hörte man Adolf Gasser sprechen, in dessen Gedanken zum Schweizer Modell der Schweizer Historiker René Roca in einer mehrteiligen Serie in Zeit-Fragen eingeführt hat.
Wer soll nun aber Träger dieser Erneuerung der menschlichen Gemeinschaft von unten her sein? Auch hier wartet Maurer mit einem zukunftsweisenden Schulterschluss über alle ideologischen Gräben und Verwerfungen hinweg auf: «Der Widerstand gegen die neoliberale Hegemonie kommt nämlich heute zum einen von der Linken, zum anderen aber zunehmend auch aus dem katholischen Lager und der islamischen Welt.» (S. 249) Denn fast alle Religionen würden ebenso wie die Linke den Vorrang von Werten vor der Ökonomie postulieren.
Gläubige und Linke können sich die Hand reichen So heisse es treffend im Matthäus-Evangelium, man könne nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen. Gläubige und Linke seien «unter den Bedingungen des Marktimperialismus» natürliche Verbündete. Marx' Diktum, Religion sei «Opium des Volkes», könne heute keine unbeschränkte Gültigkeit mehr für sich beanspruchen, soziale Einstellungen seien durchaus auch religiös begründbar – gerade wegen der personalen Auffassung des Menschen durch die Kirchen und das Zinsverbot im Christentum und im Islam. Und so schlussfolgert Maurer: «Die Linke muss endlich begreifen, dass sie mit ihrem militanten Atheismus auf dem Holzweg war. Im Deutschland dieser Tage kann man durch einen Vergleich der Äusserungen von Heiner Geissler, Norbert Blüm und Oskar Lafontaine leicht feststellen, dass in der Analyse des modernen Raubtierkapitalismus kein Unterschied besteht. Das Programm der katholischen Arbeitnehmerbewegung zur Bundestagswahl 2005 hätte von allen Kandidatinnen und Kandidaten der Linkspartei problemlos unterschrieben werden können.» (S. 253f)
Historische Analogie: Imperium Romanum und US-Empire In spannenden und überaus erhellenden historischen Analogien zeigt Maurer auf, wie in der Geschichte noch jedes Imperium, welches sich lediglich auf die Macht der Bajonette stützte und die eigene staatstragende Mittelschicht und gemeinsame Werte zerstörte, dem Untergang geweiht war. Allerdings nicht, ohne einen hohen Blutzoll zu fordern. Glaubhaft zeigt er am Beispiel des Imperium Romanum auf, wie die Gier nach Ressourcen, dort nach Sklaven, zu einer Überdehnung des militärischen Apparates, zu einer Verarmung der breiten Massen und einer unsäglichen Dekadenz der Eliten führte und schliesslich zum Kollaps. Übertragen auf das Empire der USA bleibt nur die Schlussfolgerung, dass sich auch dieses Machtgebilde, so unüberwindlich es einem zurzeit vorkommen mag, bereits überlebt hat und in seinem Niedergang allerdings die Welt mitzureissen droht. Maurer zeigt aber anhand des Oströmischen Reiches auch auf, dass durch Besinnung auf gemeinsame Werte und das Wiederaufrichten eines staatstragenden freien Mittelstandes – dort die Ordnung der sogenannten Themenverfassung mit den Stratioten, den freien Wehrbauern, für die das Staatsinteresse und die Verteidigung des Staates identisch mit dem eigenen Interesse war –, dass dadurch der Niedergang gestoppt und über 1000 Jahre eine blühende Kultur erhalten werden konnte, ohne welche die Schätze der antiken Philosophen und Naturwissenschafter nie so hätten bewahrt und in der Renaissance im Gebiet des ehemaligen Weströmischen Reiches wieder fruchtbar gemacht werden können.
Plutokratisches Feudalsystem USA dem Untergang geweiht Maurers Fazit aus diesen historischen Prozessen: «Ohne Identifikation breiter Bevölkerungsschichten mit der Staatsidee und mit einem vorhandenen Wertesystem gibt es keine historische Überlebenschance; mit diesen Qualitäten jedoch sehr wohl.» (S. 142) Ist also das «plutokratische Feudalsystem in den USA» (S. 144) dem Untergang geweiht, stellt sich für Maurer die Frage, wo staatstragende Schichten in Europa zu orten wären. Fündig wird er in Frankreich und in Südeuropa, nur dort gebe es noch Ansätze eines aktionsfähigen Widerstandes. Die Mittelschichten der übrigen europäischen Staaten seien «überwiegend noch in einer Ideologie gefangen, die ihnen einredet, dass sie strukturell mehr mit den Feudalherren als mit den Proleten und Habenichtsen verbunden sind.» (S. 144) Die verführerische Botschaft, zu den Herren und nicht zu den Knechten zu gehören, sei anscheinend unwiderstehlich. Dennoch setzt Maurer grosse Hoffnung auf Europa. Nicht aber auf das neoliberale Modell der heutigen EU, zu welchem ja das französische und das niederländische Volk deutlich nein sagten, als sie den Verfassungsentwurf ablehnten.
Einzige Alternative: ein Europa von unten … Zu dieser EU in ihrer permanenten Erweiterung findet Maurer deutliche Worte, die gerade auch die Linke in der Schweiz mit grossem Interesse rezipieren wird: «Die Idee der ‹Vereinigten Staaten von Europa› degeneriert durch die ständige Erweiterung der EU zu einem ideologischen Scheinüberbau, der die Errichtung einer neoliberalen Freihandelszone bemänteln soll. Wirklich mächtig ist infolgedessen nur noch das Wettbewerbskommissariat der EU, neben der Welthandelsorganisation WTO, dem Internationalen Währungsfonds IWF und der Weltbank die wichtigste politische Agentur des Neoliberalismus.» (S. 145)
Was aber ist Europa, was macht den Europäer aus? Maurer: «Europäer zu sein hat nichts mit Abstammung und Blut, wohl aber mit demokratischen Werten, der Ablehnung von Folter und Todesstrafe und der Gleichstellung der Geschlechter zu tun.» (S. 222) Europa sei die einzige realpolitische Alternative zu Weltherrschaft und Untergang des angloamerikanischen Imperiums.
… als ökologischer Sozialstaat mit einem wirklich souveränen Deutschland «Ein Europa von unten, ein Bundesstaat aus Ländern mit gleichen sozialen und ökologischen Standards, mit menschenwürdigen Mindestlöhnen, mit einheitlichen und gerechten Steuersätzen, ein Europa als ökologischer Sozialstaat könnte die Menschen sehr wohl begeistern.» (S. 223) Alleine seien die Nationalstaaten zu schwach, um sich dem Erpressungspotential des internationalen Kapitals und seiner Führungsmacht zu widersetzen.
Und was bedeutet dies nun für Deutschland? Maurer betont, dass Deutschland zuerst wie Frankreich werden müsse, um dann gemeinsam mit dem Nachbarland ein soziales und demokratisches Europa zu schaffen. Zuallererst müsse Deutschland dazu aber wirklich souverän werden. Damit dies gelinge, gelte es, folgende Schritte durchzuführen: «Wir müssen aus der deutschen Einheit nachträglich eine wirkliche Vereinigung machen und alle Relikte der Anschlusspolitik beseitigen. Der zweite Schritt wäre die sofortige Entfernung aller unsere Bevölkerung bedrohenden Massenvernichtungswaffen von deutschem Territorium. Der dritte Schritt wäre die Durchsetzung unserer rechtsstaatlichen Prinzipien gegenüber allen hier stationierten oder operierenden militärischen oder geheimdienstlichen Organisationen fremder Mächte. Der vierte Schritt wäre der Abzug aller fremden Truppen – es sei denn, sie wären Bestandteil einer EU-Verteidigungsgemeinschaft, die selbst allen imperialen Interventionen abgeschworen hat und sich als friedliebende Defensivmacht organisiert.» (S. 238)
Gut abgestützter geopolitischer Tour d'horizon In seiner meisterhaft geführten Analyse der Globalisierung, der Hedge-Fonds (Heuschrecken), des neoliberalen Verrats Gerhard Schröders, der Manipulation der Bevölkerung durch Massenmedien und PR-Firmen, des US-Krieges gegen den Terrorismus als Vorwand für die neoliberalen Plünderungen des Planeten – dass die unsichtbare Hand des Marktes eine unsichtbare Faust brauche –, aber auch in der Beschreibung der sich langsam bildenden Gegenpole gegen die mono­polare Weltordnung von US-Gnaden in Lateinamerika, Russland, China und Indien findet sich Maurer in bester Gesellschaft etwa eines Michael Chossudovsky, Jürgen Elsässer, Thierry Meyssan, Daniele Ganser und vieler anderer luzider Analytiker des von Maurer so genannten «Staatsstreichs des Kapitals», der verdeckten Kriegsführung und des Neoliberalismus. Lohnenswert ist die Lektüre dieser Kapitel, auch wenn sie hier nicht vertieft gewürdigt werden können, nicht zuletzt wegen der klaren und gut verständlichen Sprache Maurers.
Personales versus marxistisches und neoliberales Menschenbild Man wünscht Maurers Buch eine breite Leserschaft. Seine Analysen und Lösungsvorschläge lassen niemanden kalt, der sich nicht als «Eiszeit»-Mensch versteht, Maurers Metapher für den Homo oeconomicus, der über alle menschlichen Regungen hinweggeht und «sein Bewusstsein vom Design» bestimmen lässt. Die alten antagonistischen Pole «gesellschaftliches Sein» und «ideologisches Bewusstsein» finden in Maurers Ansatz eine Aussöhnung, eingebettet in ein personales Menschenbild, in dem der Mensch nicht bloss «Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse» (Marx) oder «auszuweidende Resultante ökonomischer Faktoren» (Neoliberalismus) ist, sondern in dem jedem Menschen eine Würde innewohnt, einfach aus dem Grunde, weil er Mensch ist, geheiligt als Geschöpf und Ebenbild Gottes und/oder unverletzlich in seiner Würde als Wesen der Natur.
Jeder soll im neuen Schulterschluss gegen die menschenverachtende Kriegsallianz mit ihrem Heuschrecken-Wirtschaftssystem nach seiner Fasson selig werden dürfen, sich in den kleinen Unterschieden leben lassen und das Gemeinsame als Grundlage für eine humanere Welt weiter schmieden, so das Anliegen Ulrich Maurers – wer wollte mit welchen Argumenten dagegen etwas einzuwenden haben? Wohl nur die wenigen Profiteure der Globalisierung, die kleine Zahl von Multimilliardären, die in ihrer grenzenlosen Gier eine Sinnhaftigkeit des Lebens nie finden werden – denn die gibt es nur im mitmenschlichen Wirken.    •
Ulrich Maurer: Eiszeit. Staatsstreich des Kapitals oder Renaissance der Linken. München 2006. ISBN 3-570-50070-5. Das andere Europa Die europäische Einigungsidee, der Traum von den Vereinigten Staaten von Europa, scheint derzeit in weite Ferne gerückt. Trotzdem ist er die einzige realpolitische Alternative zu Weltherrschaft und Untergang des angloamerikanischen Imperiums. Dieser Traum könnte die Menschen begeistern, wenn damit aufgehört würde, ihn allein für die Durchsetzung eines neoliberalen Marktregimes zu missbrauchen. Die Französinnen und Franzosen haben den Verfassungsentwurf der EU nicht deshalb abgelehnt, weil sie gegen die europäische Einigungsidee sind, sie haben ein vom Neoliberalismus beherrschtes Europa abgelehnt. Ein Europa von unten, ein Bundesstaat aus Ländern mit gleichen sozialen und ökologischen Standards, mit menschenwürdigen Mindestlöhnen, mit einheitlichen und gerechten Steuersätzen, ein Europa als ökologischer Sozialstaat könnte die Menschen sehr wohl begeistern. Es wäre dies
• ein Europa, das seine Energieerzeugung vom Öl löst und seine Vorreiterrolle bei der Nutzung der Solarenergie zur industriellen Massenproduktion weiterentwickelt;
• ein Europa, das die Prinzipien des Völkerrechts einhält und als Preis für Zusammenarbeit von anderen Staaten nicht die politische, ökonomische oder kulturelle Unterwerfung verlangt;
• ein Europa, das seine Märkte öffnet für Produkte, die unter Wahrung der sozialen Menschenrechte und unter Verzicht auf ökologischen Raubbau erzeugt werden;
• ein Europa, das seine medizinischen Forschungsergebnisse, sein Know-how und seine Medikamente auch armen Gesellschaften anbietet und dabei Humanität höher bewertet als Gewinninteressen und Patentschutz seiner Konzerne;
• ein Europa, das sich als Brücke zur islamischen Welt versteht, das fremde Kulturen achtet und sie nicht zerstört;
• ein Europa, das rund um das Mittelmeer einen Wirtschafts- und Kulturraum gestaltet, der auf Vielfalt und gegenseitigem Respekt beruht;
• ein Europa, das sich an militärischen Interventionen und Angriffskriegen nicht beteiligt und dessen militärische Kapazitäten ausschliesslich auf seine Verteidigung ausgerichtet sind;
• ein Europa, das seine technologischen Errungenschaften weltweit anbietet, ohne dafür Zugeständnisse an seine machtpolitischen Absichten zu verlangen;
• ein Europa, das auch in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus die Menschenrechte achtet, nicht foltert und auch nicht mit Folterern zusammenarbeitet;
• ein Europa, das darauf verzichtet, sein Demokratiemodell mit Geld oder Gewalt exportieren zu wollen, und allein auf die Kraft des Beispiels setzt;
• ein Europa, das sich für eine Reform der Vereinten Nationen einsetzt, die die Mehrheitsverhältnisse auf diesem Planeten widerspiegelt und das internationale Gewaltmonopol der UN festigt, wenn es um die Verhinderung von Unterdrückung und Völkermord geht.
Ein solches Europa könnte auch in Zeiten überleben, in denen die Vorherrschaft eines Siebtels der Menschheit über alle anderen nicht länger zu legitimieren ist. Und es könnte ein Beispiel dafür sein, dass sich die Beendigung dieses Ungleichgewichts nicht zwingend über Krieg und Chaos vollziehen muss.
Ulrich Maurer. Eiszeit. Staatsstreich des Kapitals oder Renaissance der Linken. München 2006. (S. 223–225)
«Der Raum für dem Neoliberalismus entgegengesetzte demokratische und selbstverwaltete Organisationsformen muss schrittweise erkämpft werden» Linke Politik heute darf sich deshalb niemals darauf beschränken, die falsche Ideologie und den Zynismus des neoliberalen Systems zu bekämpfen. Neben dem Kampf um die Köpfe und die Herzen der Menschen kommt es vor allem auf die motivierende Kraft des positiven Beispiels an. Die Linke muss in der Praxis beweisen, dass und auf welche Weise Menschen ohne Profitorientierung und ohne Selbstbereicherung die Erfüllung fundamentaler Bedürfnisse selbst erfolgreich in die Hand nehmen können.
Der Kampf um die Selbstbehauptung und Erweiterung der öffentlichen Daseinsvorsorge wird nur erfolgreich sein, wenn Menschen Selbstverwaltung und staatliches Handeln positiv erleben. Dafür bedarf es auch einer Wiederbelebung der weithin verlorengegangenen Ethik öffentlicher Verwaltung. Der Dienst an der Gemeinschaft muss auch als eine moralische Verantwortung empfunden werden. Der Verwaltungsangestellte oder Beamte darf sich nicht als kritikloser Diener eines Obrigkeitsstaates verstehen, sondern als den Bürgerinnen und Bürgern verpflichteter Dienstleister. Selbst strenge Kontrollen oder sogar strafrechtliche Verfolgung werden Verantwortungslosigkeit und Korruption bei den Behörden nicht verhindern können, solange sich der öffentliche Sektor weiter als x-beliebiges Unternehmen begreift, in der der Einzelne eben seine Arbeitszeit absitzt.
Gerade für linke Mandatsträger und öffentlich Beschäftigte muss dieser Anspruch Verpflichtung sein. Es macht keinen Sinn, in der Theorie eine lupenreine sozialistische Lehre zu vertreten und dann in der konkreten Praxis vor Ort zu versagen. Es macht ebensowenig Sinn, erst den Zusammenbruch des neuen weltbeherrschenden kapitalistischen Feudalsystems abzuwarten, bevor man im Kleinen für spürbare Verbesserungen sorgt. Die Überwindung dieses Systems beginnt vor Ort, sie beginnt in der gelebten Praxis, und sie beginnt oft mit kleinen Schritten. Der Raum für dem Neoliberalismus entgegengesetzte demokratische und selbstverwaltete Organisationsformen muss schrittweise erkämpft werden. Bei einem (im Kern schon jetzt vorhersehbaren) Crash des herrschenden Weltwirtschaftssystems kann der Aufbau neuer Strukturen nachbarschaftlicher Solidarität und regionaler Selbstversorgung überlebenswichtig sein. Vor allem, da ein umfassendes Lösungsmodell, das den Neoliberalismus als neues wirtschaftliches und gesellschaftliches Paradigma ablösen könnte, gleichzeitig aber nicht in die Fehler der realsozialistischen Ein-Parteien-Diktaturen zurückfällt, noch nicht im Detail ausgearbeitet ist. Wir dürfen mit dem Bau von Rettungsbooten nicht erst beginnen, wenn das Schiff schon untergegangen ist.
Ulrich Maurer: Eiszeit. Staatsstreich des Kapitals oder Renaissance der Linken. (S. 209–210)