James Jones, der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber, den der neue
US-Präsident als Sicherheitsberater aus dem Ruhestand
zurückgeholt hat, erwähnte in München zwar Karsai mit keinem
Wort, wies aber in aller Deutlichkeit auf Defizite der Kabuler
Regierung hin, zum Beispiel auf das noch immer ungelöste
Drogenproblem und das Fehlen einer funktionierenden Justiz und
Polizei. Richard Holbrooke, von Barack Obama als Sondergesandter
zur Lösung des Pakistan-Afghanistan-Konflikts eingesetzt,
erklärte mit seiner Erkenntnis "Die Taliban sind so stark wie
noch nie" eine frühere Äußerung des Ex-Generals Jones zu
Makulatur. Noch im Sommer 2005 war der damalige
Nato-Oberbefehlshaber Jones nämlich der Überzeugung: "Die
Zeiten, da die Taliban wieder erstarken, sind endgültig vorbei."
Selten hat sich ein Nato-General so dramatisch geirrt!



Inzwischen agieren die Gotteskrieger wieder wie in ihren besten
Tagen. Der Süden des Landes ist praktisch in ihrer Hand. In den
an Pakistan grenzenden Provinzen erlebe ich seit drei Jahren,
dass die "Religiösen", wie man die Taliban dort mit ängstlicher
Ehrfurcht nennt, von der Dorfbevölkerung bei juristischen
Streitereien gerne als Richter eingesetzt werden. "Im
Unterschied zu den staatlichen Richtern sind sie wenigstens
nicht korrupt", das ist die Begründung dafür. Seit 2007 dehnen
sie ihre Einfluss-sphäre auch in den Norden aus.



Inkompetenz und Korruption wirft der Diplomat Holbrooke der
Kabuler Regierung ganz undiplomatisch vor. Natürlich hat er
damit recht. Aber: Zur Korruption gehören immer zwei. Einer
zahlt, einer nimmt. Und dass in Afghanistan der reiche Westen
korrumpiert, sticht dem landeserfahrenen Helfer täglich in die
Augen.



Entwicklungshilfegelder werden in unkontrollierter Großzügigkeit
verteilt, und das in einem Maß wie nirgendwo sonst. Von den 80
Millionen Euro deutscher Entwicklungshilfe an Afghanistan sind
im Jahr 2006 weniger als 25 Millionen tatsächlich bei Projekten
angekommen. Der große Rest ist einfach verschwunden, in
horrenden Gehältern und sogenannten Verwaltungskosten. Nach
Veröffentlichung dieser Zahlen hat die Bundesregierung das Übel
nicht etwa abgestellt, sondern den Betrag auf 140 Millionen
erhöht. Die Opposition schweigt. Die Bürger zahlen.



Auch wer über die Inkompetenz der Regierung Karsai schimpft,
sollte sich erst einmal kritisch selber befragen: Wer hat denn
Karsai und seine Minister ins Amt gebracht und jahrelang
gehätschelt? Zum Beispiel den Außenminister Spanta, der nach
eigenen Angaben einst ein glühender Verehrer Maos war, nach
seiner Flucht im Jahr 1982 deutscher Staatsbürger wurde und 1999
nicht einmal mit Erfolg für den Stadtrat von Aachen kandidierte.
Er verdankt sein Amt wohl mehr seinem früheren grünen
Parteifreund Joschka Fischer als dem Wunsch vieler Afghanen.
Spanta, der Politologie-Dozent, ist Lieblings-Interviewpartner
unserer Medien und prägt so das Afghanistanbild hierzulande. Im
Jahr 2007 wurde er durch Parlamentsbeschluss seines Amtes
enthoben, wegen "Unfähigkeit". Auch dank westlicher Intervention
ist er immer noch in Amt und Würden. Karsais Verhältnis zu ihm
ist gespannt. Dessen Vorwurf in München, der Westen behandele
Afghanistan wie eine Kolonie, ist daher nur zu gut verständlich.



2300 westliche Polizei-Ausbilder forderte im Herbst 2008 der für
die Ausbildung verantwortliche US-General Cohen. Deutschland
hatte sich bei der Petersberger Konferenz vor sieben Jahren
verantwortlich für die Polizeiausbildung erklärt. Tatsächlich
leisten heute weniger als 100 deutsche Beamte dort Dienst, und
ein Großteil von ihnen ist nicht mit Ausbildungs-, sondern mit
Verwaltungsaufgaben beschäftigt. Wie interessant ist es wohl für
einen jungen Afghanen, sich von deutschen Polizisten ausbilden
zu lassen? 4000 Euro netto verdient ein 18-jähriger, lediger
deutscher Obergefreiter, der im Hochsicherheitscamp der
Bundeswehr in Faisabad als Hilfskoch vier Monate den Kochlöffel
schwingt. Der afghanische Polizeimeister, 35 Jahre, sieben
Kinder, erhält 60 Euro im Monat - für einen Job, der ihn mit
einiger Wahrscheinlichkeit das Leben kostet: Im vergangenen Jahr
kamen 1370 afghanische Polizisten ums Leben. Und wir wundern
uns, dass sich trotz hoher Arbeitslosigkeit nur Analphabeten zur
Polizei melden. Wenn ich an den Schulen unserer Organisation im
Osten des Landes die Abiturienten frage, wer denn zur Polizei
gehen möchte, ernte ich Gelächter: "Nur Doofe und Kriminelle
arbeiten für 70 Dollar im Monat. Wir suchen uns nach der Schule
einen Job als Dolmetscher bei der Internationalen
Afghanistan-Schutztruppe oder als Büroangestellter bei einer
Hilfsorganisation. Dort verdienen wir das Zehnfache eines
Polizisten."



Rund 12 000 westliche Söldner verdingen sich derzeit am
Hindukusch, zusätzlich zu den regulären Truppen.
Durchschnittsverdienst jeweils 5000 Dollar im Monat, bezahlt aus
dem Topf "Wiederaufbau". Mit diesen 60 Millionen könnte man 100
000 afghanischen Polizisten für ein Jahr ein menschenwürdiges
Salär bezahlen und die für viele Polizisten lebensnotwendige
Korruption deutlich reduzieren, wenn schon nicht ganz beseitigen.



Präsident Karsai hat sich in München völlig zu Recht, nur viel
zu spät, verbittert und enttäuscht vom Westen gezeigt. Er klagt
an: Die Zahl der durch US-Bombardements getöteten Zivilisten hat
sich in den vergangenen zwei Jahren verdreifacht. Das Verhalten
der US-Marines beim Durchsuchen der Dörfer ist von kultureller
Ignoranz und Brutalität geprägt. Verwunderlich ist das nicht.
Bei den Marines dienen laut CNN derzeit 12 000 Kriminelle:
vorbestraft wegen schwerer Körperverletzung oder schweren Raubs.
Kein Wunder also, dass die landesweite Umfrage von ARD und BBC
in Afghanistan vom Herbst 2008 ein vernichtendes Bild ergab: Nur
jeder dritte Afghane bescheinigte den westlichen Truppen eine
positive Leistung. Vor zwei Jahren waren es mehr als doppelt so
viele. 50 Prozent der Afghanen drängen auf ihren raschen Abzug.
Der Westen hat den Kampf um die Herzen und Köpfe vorläufig
verloren. Die Taliban gelten immer mehr Afghanen als das
kleinere Übel.


Reinhard Erös, 61, war Oberstarzt der Bundeswehr. Seine
Organisation "Kinderhilfe Afghanistan" betreibt im Süden des
Landes zwei Dutzend Schulen und Gesundheitsstationen. Foto: oh


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.38, Montag, den 16. Februar 2009 , Seite 2

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