DAS ENDE DER GROßEN


Zurück zum menschlichen Maß

 

Bereits vor fünfzig Jahren sagte Leopold Kohr das Ende der großen Machtblöcke voraus und empfahl die Rückkehr zum menschlichen Maß. Dieses Plädoyer für die "richtige Größe" entstand in einer Zeit, in der Wachstum und internationale Zusammenschlüsse dominierten, und ist heute - im Zeitalter der Globalisierung - aktueller denn je. Den Slogan "small is beautiful", den Kohrs Schüler und Freund Fritz Schuhmacher in den 70er Jahren berühmt machte, hatte Kohr schon früher ausführlich begründet: Kleine Staaten und soziale Einheiten seine effizienter und friedlicher als große. In brillanter Analyse zerlegt Kohr die Ideologien des Größenwahns in der Politik und in der Wirtschaft. Er zeigt anhand zahlreicher Beispiele aus Geschichte und Gegenwart, warum große Einheiten zwangsweise scheitern müssen und nur die Einhaltung des richtigen Maßes die Menschheit vor dem Sturz in den Abgrund retten kann. Die Leopold-Kohr-Akademie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die bedeutenden Werke Kohrs in einer neuen Reihe herauszugeben, deren erster und wohl wichtigster Band hiermit vorliegt.

Leopold Kohr wurde am 5. Oktober 1909 in Oberndorf bei Salzburg geboren. In Wien, Innsbruck, London und Paris studierte er Rechts- und Staatswissenschaften. 1938 emigrierte er nach Amerika. Er lehrte seit 1943 unter anderem an den Universitäten in New Jersey, Puerto Rico und Aberystwyth (Wales). Nach der Pensionierung an de Universität Puerto Rico im Jahr 1973 übersiedelte er nach Wales, später nach Gloucester (England). 1983 erhielt er als erster Österreicher den "Right Livelihood Award" dem sogenannten Alternativen Nobelpreis. Das offizielle Österreich ehrte ihn durch Auszeichnungen für Verdienste um die Republik. Kurz bevor Kohr endgültig in seine Heimat zurückkehren wollte, starb er am 26. Februar 1994 in England.

Dr. Ewald Hiebl, geb. 1968, studierte Geschichte und Germanistik in Salzburg. Assistent an der Universität Salzburg. Assistent an der Universität Salzburg, freier Mitarbeiter des ORF. Zahlreiche Publikationen. Bearbeitet seit 1998 den Nachlaß von Leopold Kohr.

Dr. Günther Witzany, geb. 1953, studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Moraltheologie in Salzburg und München. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. 1985 Begründer der ersten Philosophischen Praxis in Österreich.

 

Eine Auszüge aus dem Buch:

Die Philosophien des Elends:

1. Theorien über imaginäre Ursachen

Die Menschen der Antike schrieben die Ursachen der meisten unserer Schwierigkeiten dem Groll der Götter zu. Sie dachten, der einfachste Weg zur Verbesserung der Lebensumstände bestehe im Gebet oder, wenn sich dies als unzureichend herausstellte, im rituellen Abschlachten jener Personen, welche die Götter erzürnt hatten. Manchmal waren die Resultate erstaunlich: Kaum waren die Gebete gesagt, schon fiel Regen auf die durstigen Felder, der Lavastrom eines Vulkans versiegte plötzlich, oder es erreichte sie die Nachricht von der Niederlage eines drohenden Angreifers. Manchmal geschah gar nichts. Wie im Falle der meisten falschen Einschätzungen wurde dem aber keine Bedeutung beigemessen, und man sah keinen Grund, warum eine Theorie, die man die göttliche Theorie über die Entstehung sozialen Elends nennen könnte, allein deshalb als ungültig zu betrachten sei, weil sie sich ja in der Erklärung so vieler anderer Unglücksfalle als zufriedenstellend erwiesen hatte.
Im Mittelalter wurde die göttliche Theorie von einer Hexen-Theorie abgelöst, die die Ursache des Elends weniger dem Zorn Gottes als der Bosheit eine bösen Geistes zuschrieb. Recht logisch dachte man nun, die einzige Genesungsmöglichkeit liege in der Vernichtung jener, die vom Teufel besessen schienen. So gingen eine verhexte Scheune, ein schielender Buckliger, eine sehr häßliche oder eine sehr schöne Frau in Flammen auf. Wieder schätze man die Resultate als höchst zufriedenstellend ein, mit Ausnahme einiger weniger Fälle, bei welchen die Leute, anstatt ihre Theorie anzuzweifeln, daran zweifelten, ob sie nicht die falsche Hexe verbrannt hatten, womit die fröhliche Jagd von vorne anfing.
Später, mit wachsendem Interesse des Menschen am Mechanismus des Universums, entstand eine Anzahl kosmischer Theorien über das Elend. Krankheit und Krieg wurden jetzt dem gelegentlichen Auftauchen eines Komenten zugeschrieben, dem wiederholten Erscheinen eines roten Hofes um den Mond oder, als man entdeckte, daß die Sonnenflecken auf unser Nervensystem einen irritierenden Einfluß besitzen, der zyklischen Intensivierung der Sonnenfleckentätigkeiten. Da es kaum je Unglücksfälle gab, die nicht mit einem oder mehreren dieser himmlischen Phänomene zusammenfielen, wurden diese Theorien, wie auch alle Theorien vorher, als höchst zufriedenstellend eingeschätzt. Da himmlische Phänomene nicht beeinflußt werden konnten, hatten die kosmischen Theorien zusätzlich den Vorteil, die Menschheit der schwierigen Aufgabe zu entheben, nach Lösungen und Heilungsmöglichkeiten überhaupt zu streben. Sich passiv den Kräften der Natur zu unterwerfen, stand aber im Gegensatz zu den Ideen des Zeitalters der Vernunft. Mit dem Ausbruch der modernen Zeit stoßen wir daher auf eine neue Reihe von sozialen Elendstheorien. In rascher Folge entwickelten sich eine ökonimische Theorie, die den Krieg und andere Formen sozialer Ungerechtigkeit dem expansiven Drang des profitsuchenden Kapitalismus zuschreibt; eine psychologische Theorie, die sie der Frustation zuschreibt; eine persönliche, ideologische, kulturelle und eine nationale Theorie, die das soziale Leiden nacheinander den Absichter böser Menschen (Hitlers, Mussolinis oder Stalins) zuschreibt; bösen Ideologien wie dem Nazismus oder Kommunismus; bösen kulurellen Traditionen wie dem preußischen Militarismus oder dem britischen Kolonialismus; und schließlich weil eine Mehrheit dieser Eigenschaften in der Geschichte eines bestimmten Volkes scheinbar zusammen auftauchte, einem bösen Erbe, einer bösen Nation - etwa den Deutschen, so wie sie in der Vergangenheit den westlichen Allierten schienen, oder den Amerikanern, wie es jetzt den östlichen Allieerten vorkommt.
Wie alle vorhergegangenen erwiesen sich auch diese Theorien wieder als höchst zufriedenstellend in der Erklärung jenes sozialen Elends, das sie hervorrief. Wie ihre Vorgänger erwiesen sie sich aber ebenfalls als vollkommende Versager, wenn es darum ging, Ausnahmen zu erklären. Indem sie sekundäre mit primären Ursachen verwechselten oder, um die Ausdrucksweise von Lukrez zu vewenden, die Eigenschaft von Dingen mit ihrem bloßen Zufall, konnten sie zwar die Brutalität der Moslems erklären, nicht aber die der Christen. Sie konnten die Armut amerikanischer, nicht aber die Armut russischer Slums erklären. Was Kriege betrifft, so konnten sie die Kriege der Nazis erklären, nicht aber die Kreuzfahrten; die Kriege Deutschlands, nicht aber jene Frankreichs; die Kriege Hitlers, nicht aber die Nehrus; die Kriege der Kapitalisten, nicht aber die Kriege der Sozialisten. Trotz ihres subtileren Denkens scheinen sie somit auf die Probleme, die sie analysieren wollten, nicht mehr Licht geworfen zu haben, als es die Hexen- oder Sonnenflecken-Theorien früherer Zeiten taten. Ihr ganzes Verdienst bestand darin, die Aufmerksamkeit von imaginären auf sekundäre Ursachen umzulenken - und manchmal nicht einmal dies.

S46/2 Sekundäre Ursachentheorien:

Wegen ihrer neueren Entwicklung und der scheinbaren Logik ihrer Analyse verdienen sowohl einige dieser neuen Theorien wie auch die von ihnen angebotenen Lösungen eine nähere Betrachtung. Am heftigsten vertreten wurde die ökonomische Therorie. Ihren Prämissen zufolge sind die meisten Formen sozialen Elends, im besonderen Armut, Krieg und Imperialismus, die unausweichlichen Konsequenzen des kapitalistischen Systems und der freien Marktwirtschaft. Einfach ausgedrückt, besagen sie folgendes: Zuerst verursacht die Profitgier des Geschäftsmannes, daß die Arbeiterklasse weniger für ihren Beitrag an der Produktion erhält, als ihr zusteht. Daraus ergibt sich die unvermeidbare Unfähigkeit de Arbeiterklasse, die Waren von den Produzenten zuückzukaufen, für die sie erzeugt hat. Als Folge muß einer von zwei Mißständen eintreten. Entweder muß die Produktion wieder auf ein Maß zurückgeführt werden, das vom heimischen Markt absorbiert werden kann; oder es müssen neue Märkte gefunden werden, falls der interne Verbrauch und die daraus erwachsenden Investitionsmöglichkeiten gesättigt sind. Die erste Alternative führt zu Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen Elendsformen; die zweite zu Imperialismus und Krieg. Die letzte Konsequenz birgt einen doppelten Beweggrund für kapitalistische Produzenten und Geschäftsleute, in der Wlt Unruhe zu stiften. Denn die durch Krieg und Wiederaufbau notwendig werdende Produktion eröffnet neue Märkte und Profitquellen, die durch die um sich greifende Stagnation, welche sich in jeder reif gewordenen Privatwirtschaft breit macht, nicht mehr zur Verfügung stehen. Daraus ergibt sich der ständige Drang nach imperalistischer Expansion und nach immer neuen Kriegen, um die Lebensbedürfnisse eines Systems zu befrieden, dessen hauptsächlichste Antriebskraft im Profitmotiv liegt.

Ein sozialistisches System andererseits, das nicht für Profit, sondern für Verbrauch produziert, hat weder Interesse, seine Mittel durch militärische Ausgaben zu vergeuden, noch fremde Märkte für Waren zu erobern, die viel besser zu Hause zur Anhebung des Lebensstandards verwendet werden können. Durch seinen ureigensten Charakter ist es daher genauso an der Erhaltung des Friedens interessiert, wie der Kapitalismus als letzten Ausweg den Krieg zum Ziel haben muß. Die Lösung der Hauptprobleme der Welt scheint daher recht einfach zu sein: Alles, was not tut, ist die Abschaffung des Kapitalismus und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft. Dies mag schon so sein. Leider aber bleiben zwei Dinge ungeklärt. Erstens: Warum geht es den Arbeitern in sozialistischen Ländern nicht besser als den Arbeitern in kapialistischen Staaten? Und zweitens: Wie kommt es, daß zwei der größten Aggresoren der heutigen Welt kommunistische Staaten sind - die Sowjetunion und China -, während so kapitalistische Länder wie Kanada, Belgien, Luxenburg, Monaco und besonders diese noch immer leuchtende Hochburg eines fastperfekten Systems der freien Marktwirtschaft, die Schweiz, sich unter den friedlichsten Ländern befinden? Dies scheint anzudeuten, daß das Produktionssystem einer Gesellschaft, im Gegensatz zu den Annahmen der ökonomischen Therie, weder mit ihrer sozialen Wohlfart noch mit dem Führen von Expansionskriegen etwas zu tun hat. Eine Abänderung der Wirtschaftssysteme könnte daher kaum zur Lösung von Problemen beitragen, deren Ursache sie nicht sind.

Die ideologische und die persönliche Theorie schreibt die verschiedenen Formen sozialen Elends entweder einer tückischen Macht-Philosophie oder einer tückischen Staatsführung zu. Ihre Lösung liegt demnach recht logisch im Umschalten zu einer besseren Philosophie oder im Abschieben der Führer in die Ewigkeit. Beide Theorioen sind miteinander verwandt und können als zwei Phasen einer einzigen Theorie behandelt werden. Ihnen zufolge wäre Macht in den Händen von guten Menschen, die einer Philosophie es Willen folgen, harmlos. Dies erklärt einige der Widersprüche der ökonomischen Theorie. Es erklärt die russische und chinesische interne Ausbeutung und externe Aggresivität, welche die ökonomische Theorie nicht erklären konnte, damit, daß der Kommunismus die Weltherrschaft des Proletariats nur deßhalb als Ziel haben kann, weil er auf einer kompromißlosen Macht- und Herrschaftsideologie beruht. Ebenso erklärt sich der Brutalität- und Angriffsgeist der deutschen und italienischen Diktatur als Folge sowohl de Macht-Philosophien von Nazismus und Faschismus als auch einer Führung, die keine moralischen Skupel kennt. Andererseits erklärt sich dadurch auch in zufriedenstellender Weise die gegenwärtige Nicht-Aggresivität von Völkern wie den Schweizern, Franzosen oder Belgiern als Folge sowohl ihrer gemäßigten Führung wie auch einer demokratischen Regierungsphilosophie, die nichts als menschliches Glück und Frieden zum Ziele hat.

So weit, so gut. Wen der Faschismus aber eine brutlisierende und aggressive Macht-Philosophie ist, wie er zweifellos eine zu sein scheint, erklärt das nicht, warum etwa das faschistische Spanien oder das fast-faschistische Portugal, zumindest in ihren auswärtigen Beziehungen, genau so friedlich wie die demokratische Schweiz oder wie Dänemark waren. Noch erklärt es, weshalb das absolutistische Nepal, das sich überdies rühmt, die tapfersten Kämpfer der Welt hervorgebracht zu haben, die Gurhat, scheinbar nie auch nur davon träumt, einmal selbst in Feld zu ziehen. Es erklärt auch nicht, weshalb der Kommunismus, der in der Sowjetunion so beängstigend und tyrannisch aussieht, in Jugoslawien als nicht-aggresiv eingeschätzt wird und in der winzigen Bergrepublik von San Marino so reizend aussah, daß er uns erheiterte, statt uns Angst einzujagen.

Im Gegensatz dazu erklärte es auch nicht, weshalb solch eine nicht-aggresive Philosophie des Friedens wie jene Gandhis keinen zügelnden Einfluß auf einen so friedliebenden Mann wie Nehru hatte, der in seinem Jahr an der Macht gleich zwei Kriege führte, gegen
Haiderabad und Kaschmir, und noch mehrfach einen dritten gegen Pakistan androhte, den schließlich seine friedliebende Tochter Indira führte, und dem unabhängigen Nachbarstaat Nepal auf höchst aggresive Weise seinen Willen aufdrängte. Noch erklärt es die aggresiven Kriege und die damit verbundenen Brutalitäten des domokratischen Frankreich und Großbritanniens zur Zeit ihrer früheren Kolonialabenteuer.Letzlich erklärt es auch nicht, weshalb selbst die sublimste der Friedensphilosophien, die Lehre Christi, die Nachfolger des heiligen Petrus in der Heiligen Stadt um im Staate Rom nicht davon abhalten konnte, sich hin und wieder ebenso lustvoll Aggresionen und brutal durchdachten Staatszielen hinzugeben wie die ärgsten Kriegsverbrecher in der Geschichte.

Man hätte annehmen sollen, daß zumindest in ihrem Falle die Macht in den Händen von Menschen guten Willens und erhabener Prinzipien lag. Was natürlich der Fall war. Wenn dies trotzdem kaum einen Unterschied machte, dann kann dies nur darauf zurückzu-
führen sein, daß rechtsschaffene Ideologien und perlönliche Moralität offensichtlich ebenso wenig kausale Beziehungen zum sozialen Elend haben, wie das bei Wirtschaftssystemen der Fall ist. Dies scheint auch der Grund zu sein, weshalb Kriege, obwohl wir die Kriegsverbrecher aufgehängt und die Philosophie ihrer früheren Anhänger verändert haben, wie seit eh und je uns noch immer zu schaffen machen.