Warum Kinder das Vorlesen von Märchen und Geschichten und Jugendliche altersgemäße Literatur brauchen

Mit Wertmaßstäben zur Mündigkeit erziehen

Von Erich Brunmayr und Mathilde Brunmayr-Stockinger

Aufzählung Märchen fördern das Vermögen, sich in andere einzufühlen.
Aufzählung Wem seltener vorgelesen wurde, der neigt eher zu Gewalt.

Gmunden. Knapp 20 Prozent der heutigen Jugendlichen haben nie von ihren Eltern oder Großeltern Geschichten oder Märchen erzählt oder vorgelesen bekommen.

In dieser Zielgruppe ist beispielsweise die Gewaltaffinität je nach abgefragten Indikatoren 10- bis 20-mal so hoch wie in der Gruppe jener Jugendlichen, denen als Kind Geschichten und Märchen oft vorgelesen worden sind. Natürlich ist das Geschichtenerzählen auch ein Indikator für das Engagement, das Eltern für ihr Kind aufwenden.

 

Es ist aber auch das notwendige Bildungsangebot für Einfühlungsvermögen und in der weiteren Folge für den Aufbau von Lebensbildern und Leitideen für das eigene Leben. Wo sonst erfährt ein Kind was Treue, Geborgenheit, Fürsorge, mitmenschliche Hilfe bedeutet und wie man als davon Betroffener Gewalt, Missachtung, Zurückweisung und Spott erlebt und sich dabei fühlt? In den Märchen erleben Kinder Entwicklungsgeschichten und die Sicherheit, aus allen Wirrnissen wieder herauszufinden. Märchen gehen gut aus.

Immer wieder wird nach Gewaltexzessen Jugendlicher sichtbar, dass Gewalt anwendende Jugendliche sich nicht in den Misshandelten einfühlen können. Das Einfühlen in das vermittelte Leid eines anderen ist ihnen fremd. Alexander Mitscherlich hat in seinem Buch über die "Vaterlose Gesellschaft" den Satz geprägt: Wenn ein Kind bis drei Jahre nicht lieben gelernt hat, wird es das nie mehr zustande bringen. Die Tendenz wird durch unsere empirischen Daten bestätigt: Einfühlungsvermögen, Mitleid und emotionales Empfinden werden in früher Kindheit grundgelegt. Kinder können mit den Märchenhelden mitleiden, ohne existenziell davon betroffen zu sein.

Es ist aber nicht mit der kindlichen Märchenstunde abgetan. Es gibt in der Ausbildung unserer Schulen auf allen schulischen Ebenen eine Tendenz, Literatur eher gering zu schätzen oder sie bloß zu "exegetisieren". Wenn Schüler sich nicht von literarischen Motiven berühren und begeistern lassen, werden ihnen viele Lebensmotive und Lebensbilder fremd sein. So wie die Dramen von Friedrich Schiller eine Idee von Freiheit, Verantwortlichkeit, Treue etc. vermitteln und ein Wolfgang Borchart das Empfinden von Krieg lehrt oder in der rezenten Belletristik ein Saramago in seiner "Stadt der Blinden", die Ausbreitung und das Erleiden von Niedertracht nachvollziehbar macht, bleibt die Hinführung und Auseinandersetzung mit diesen Realitäten den Nichtlesern verschlossen.

Wir haben die Kultur der Märchen ersetzt durch die Fantasiefilme. Der Herr der Ringe verdrängt Grimms Märchen, und James Bond verdrängt Tom Sawyer und Winnetou. Welche Lebensbilder vermitteln die Actionfilme mit ihren ungeheuer schnellen Filmschnitten, die es schwer machen, eine Handlung nachzuvollziehen?

Wenn wir im Deutschunterricht die Kinder und Jugendlichen mit diesen Erfahrungen aus Film-, Computerspielen und Internet-Sexualität allein lassen und keine alternativen Identifikationsangebote im Sinne jugendgemäß lesbarer und verständlicher Literatur und Belletristik bieten, dann stehen wir diametral zu jenem Bildungsauftrag, der immerhin in der Präambel unserer Schulgesetze postuliert wird: nämlich der Erziehung zur Mündigkeit. Mündigkeit setzt Wertmaßstäbe voraus, auf deren Grundlage wir Entscheidungen treffen.

Wenn wir den Jungen aber keine Auseinandersetzung mit den impliziten oder expliziten Lebensmotiven und Lebensbildern bieten, dann können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass Mündigkeit Illusion bleibt und der mediale Mainstream die Köpfe der Jugendlichen ausfüllt. Wenn das dann auch noch mit einem pseudo-emanzipatorischen Motiv politisch unterlegt wird, ist die Verlogenheit evident.

Bekenntnis zu Phrasen und Schlagworten

Klar zeigen unsere empirischen Daten, dass bei Jugendlichen, vor allem aus Höheren Schulen, die Widersprüchlichkeit in ihren Denkmustern in den letzten 20 Jahren markant zugenommen hat: Man setzt sich tendenziell weniger mit Werthaltungen auseinander, sondern bekennt sich zu Phrasen. Politisch wünschbare Schlagworte haben höchste Zustimmung. Formuliert man die gleichen Inhalte aber anders oder transferiert sie in Handlungsmotive oder Handlungsbewertungen, dann kommen ganz andere Motive zum Ausdruck.

Vor allem die jungen Menschen sind in ihren Denkmustern höchst widersprüchlich: Sie denken partikular links und rechts gleichzeitig, sind sowohl religiös als auch agnostisch, preisen humane Hilfsbereitschaft und prügeln am nächsten Tag einen Außenseiter spitalsreif. Die Verarbeitungsqualität von Lebensmotiven und Werthaltungen bleibt immer mehr an der Oberfläche der Rhetorik hängen. Sprachhülsen signalisieren Zugehörigkeit zum Mainstream, zu Szenen oder (politischen) Subkulturen. In eine Handlungsebene werden sie nur übersetzt, wo Leitmotive auch mit Lebensbildern und Empfindungen verbunden sind. Wo sonst als in der Literatur werden solche Bilder und Empfindungen vermittelt?

Die Autoren sind Jugendforscher in Gmunden.

Printausgabe vom Samstag, 13. Dezember 2008

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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