Die Schock-Strategie
Erst Schock durch Krieg oder Katasstrophe, dann der so genannte Wiederaufbau. Es funktioniert immer nach den gleichen Mechanismen. Wo vor dem Tsunami Fischer ihren Lebensunterhalt verdienten, stehen heute luxuriöse Hotelresorts, im Irak wurden nach dem Krieg die Staatbetriebe und die Ölwirtschaft neu verteilt - an westliche Konzerne.
Existenzen werden vernichtet, es herrscht Wild-West-Kapitalismus der reinsten Sorte.
Naomi Klein, Autorin des Weltbestsellers "No Logo", weist in ihrem beeindruckenden Buch nach, wie der Siegeszug der neoliberalen Ideologie in den dreißig Jahren auf extremer Gewalt, auf Katastrophen und sogar auf Folter beruht, um die ungezügelte Marktwirtschaft rund um die Welt von Lateinamerika über Osteuropa und Russland bis nach Südafrika und in den Irak durchzusetzen.
Auszüge aus dem Buch:
(...) S 233, Begeistert einigten sich die Mitglieder dieser Bruderschaft darauf, was mit Argentiniens Wirtschaft geschehen müsse - und wie das zu schaffen sei. Der Chavallo Plan, wie er dann genannt wurde, basierte auf dem cleveren Paket-Trick, den die Weltbank zusammen mit dem IWF perfektioniert hatte: das Chaos und die Verzweiflung angesichts einer Krise mit Hyperinflation auszunutzen, um Privatisierung als integralen Bestandteil der Rettungsaktion zu verkaufen.
Um das Währungssystem zu stabilisieren, machte Chavallo daher rasch drastische Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben und gab eine weitere neue Währung heraus, den argentinischen Peso, der an den US-Dollar gekoppelt wurde. Binnen eines Jahres ging die Inflation auf 17,5 Prozent zurück, und wenige Jahre später war sie praktisch verschwunden.
Die Maßnahme beendete die Währunungskrise "obskurierte" aber die andere Hälfte des Programms.
Auch wenn sie sich sehr darum bemüht hatte, es ausländischen Investoren recht zu machen, hatte die argentinische Diktatur doch große und begehrte Stücke der Wirtschaft von der Fluggesellschaft bis hin zu den beeindruckenden Ölreserven Patagoniens in staatlicher Hand belassen. Nach Ansicht von Cavallo und den anderen Chicagoer Boys war die Revolution erst zur Hälfte erledigt, und sie waren entschlossen, ihre Arbeit mit Hilfe der Wirtschaftskrise zu vollenden.
Anfang der neunziger Jahre verkaufte der argentinische Staat die Reichtümer des Landes so rasch und so vollständig, dass das Projekt bei weitem übertraf, was ein Jahrzent zuvor in Chile geschehen war. Bis 1994 waren 90 Prozent alles Staatsunternehmen an private Gesellschaften verkauft, unter anderem Citibank, Bank Boston, Suez und Vivendi in Frankreich, Repsol und Telefónica in Spanien.
Vor den Verkäufen hatten Menem und Cavallo noch großzügig den neuen Eigentümern einen wertvollen Dienst erwiesen: Nach Cavallos eigenen Schätzungen hatten sie rund 700 000 Mitarbeiter gefeuert, andere sprechen noch heute von weit höheren Zahlen. Allein die Ölgesellschaft verlor in der Ära Menem 27 000 Beschäftigte.
Als Bewunderer von Jeffrey Sachs bezeichnete Cavallo diesen Prozess als "Schocktherapie"; Menem prägte einen noch brutaleren Ausdruck dafür. In einem Land, das noch immer von massenhaften Folterungen traumatisiert war, sprach er von einem "größeren chirurgischen Eingriff ohne Betäubung".
S 235 (...) Cavallo erklärte es Jahre später: "Eine Hyperinflation ist für die Menschen eine schreckliche Zeit, vor allem für Leute mit niedrigem Einkommen und Kleinsparer, wenn sie miterleben, wie in wenigen Stunden oder Tagen ihr Geld von den Preissteigerungen vernichtet wird, die sich mit unglaublichem Tempo vollziehen.
Aus diesem Grund bitten die Menschen die Regierung: "Bitte, unternehmt etwas". Und wenn die Regierung mit einem guten Stabilisierungsplan aufwartet, dann besteht Gelegenheit, diesen Plan mit anderen Reformen zu ergänzen...Die wichtigsten Reformen hatten mit dem Privatisierungsprozess zu tun.
Aber die einzige Möglichkeit, all diese Reformen durchzuführen, war zum damaligen Zeitpunkt, die von der Hyperinflation geschaffene Situation auszunützen, weil die Bevölkerung bereit war, drastische Maßnahmen zu akzeptieren, um die Hyperinflation zu beenden und zur Normalität zurückkehren zu können."
Auf lange Sicht erwies sich das Cavallo-Programm insgesamt als Katastophe für Argentinien. Seine Methode zur Währungsstabilisierung - den Peso an den US-Dollar zu koppeln - machte die Produktion von Waren im Land selbst so teuer, dass lokale Fabriken nicht mehr mit den billigen Importen konkurrieren konnten, die das Land überschwemmten. Auf diese Weise gingen so viele Arbeitsplätze verloren, dass gut die Hälfte der Bevölkerung schließlich unter die Armutsgrenze geriet. Auf kurze Sicht jedoch hatte der Plan großartig funktioniert: Cavallo und Menem hatten die Privatisierung eingeschmuggelt, während das Land aufgrund der Hyperinflation unter Schock stand. Die Krise hatte ganze Arbeit geleistet.
Und so konnte der Kreuzzug, den Friedman begonnen hatte, den gefürchteten Übergang zur Demokratie überleben - nicht indem seine Befürworter die Wähler von der Richtigkeit ihrer Weltsicht überzeugten, sondern indem sie sich geschickt von Krise zu Krise vorarbeiteten und kundig Verzweiflung in wirtschaftlicher Not ausnutzten, um eine Politik durchzudrücken, mit der die Gelegenheiten zu vervielfachen.
Dem Volcker-Schock folgten die mexikanische Tequila-Krise 1994, die "asiatische Krankheit" von 1997, der Zusammenbruch Russlands 1998 und kurz darauf der in Brasilien.
All diese Schocks und Krisen an Durchschlagskraft zu verlieren begannen, kam es zu noch katastrophaleren: Tsunamis, Hurrikanen, Kriegen und Terroranschlägen. Der Katastrophen-Kapitalismus nahm Gestalt an.
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